Gedanken zum Fest von Landesbischof Ralf Meister
Wann habe ich diese Geschichte zum ersten Mal gehört? Das habe ich längst vergessen. Aber ich erinnere mich, als ich zum ersten Mal diese Zeilen als Kind laut lesen durften, im festlichen Weihnachtszimmer, die Eltern stolz daneben. Und dann später das Vorlesen vor den eigenen Kindern; aber auch das Weihnachtsfest, als der Großvater das letzte Mal noch dabei war. Immer die gleichen Worte, immer die gleiche Geschichte. Fast alles hat sich in der Welt verändert. Nichts im eigenen Leben ist geblieben, was es war. Doch Jahr um Jahr höre ich dieselbe Geschichte.
Es ist nicht viel, was verlässlich und treu bleibt. Das Kinderzimmer und die weihnachtliche, kindliche Aufregung sind längst vorbei. Der jugendliche Protest: „Was soll’n der ganze Quatsch“, lange vorüber. Nun habe ich Kinderzeit und Jugend längst verabschiedet. Aber Jahr um Jahr trage ich mit der Weihnachtsgeschichte das ganze Leben wieder in die Kirche, in die Heilige Nacht. Orte, Menschen, Atmosphären, Jubel, Enttäuschung und Freude – alles ist wieder da.
Für viele Menschen sind diese Worte eine Lebensprosa geworden; Sätze, die alle Wechsel und Abschiede überdauerten. Wir haben schon oft Abschied genommen im Leben, auch im vergangenen Jahr. Freunde und Kollegen, vielleicht Partner oder Elternteil haben die Lebensbahn verlassen. Umso größer ist die Wehmut, mit der wir das Gleichgebliebene schätzen – so wie diese Geschichte, als alles einen guten Anfang nahm.
Es gibt Erzählungen, die verlassen einen nie, egal wie lange sie zurück liegen. Meist sind es Geschichten, die man mit dem eigenen Leben schreibt. Jeder trägt eine Handvoll solcher Geschichten mit sich herum, die ihm helfen. Die großen Glücksgeschichten des Lebens: die Elternschaft, die Erfüllung der Liebe, das Heimat finden. Aber auch die traurigen, die einsamen Erzählungen voller Schmerzen und Tränen gehören dazu. Aus all diesen Bildern und Gefühlen webt sich der Erzählfaden des Lebens.
Aber es gibt neben den selbsterlebten Geschichten auch eine Handvoll lebensrettende Worte, die andere aufgeschrieben haben. Die Weihnachtsgeschichte ist so ein Rettungstext.
Es begab sich aber zu der Zeit…“ Alle Jahre wieder betreten wir damit eine Welt der Hoffnungen. Unmerklich sind die Worte mit ihrem wunderbaren Zauber treue Hoffnungsbegleiter des Lebens geworden. Es gibt viel Glimmer und Glanz und viel profane Gewöhnung um das Weihnachtsfest. Aber mit der Geschichte aus dem Lukasevangelium vergisst man für ein paar Augenblicke alles Aufgebauschte, Dekorative. Der Zauber liegt in der Geschichte selbst. Gott, der uns durchs Leben hilft, und der allzu oft so weit weg ist, der mich gewollt hat und zu dem ich einst wieder gehen werde, dieser ferne Gott ist ein hilfloses Neugeborenes in der Krippe. Seine Eltern sind Flüchtlinge, und die Hirten lockt er vom Rand der Gesellschaft in seine Nähe. Das hat Menschen verändert.
Ein Gott im kalten Stall, der auf der Flucht ist? Ein Gott, der die Wunden nicht heilt, die dem Leben geschlagen werden? Der nicht mit Pomp und Trara ein Friedensreich installiert – was hilft das ? Gott bleibt unmittelbar nah in der oft verzweifelten Welt, so wie er nah war im elenden Stall, für die Menschen, die nichts hatten.
Gott in der Krippe heiligt die Tränen der Menschen, weil er sie selber weint. Nichts ist mehr gleichgültig seit dieser Geburt. Jedes neugeborene Kind bezeugt nun Gottes Liebe zu dieser Welt. Gott heiligt diejenigen, die Frieden schaffen in kriegerischen Zeiten, und er trägt den Spott, der über die Naivität der Friedenshungrigen kommt.
Das ist kein billiger Trost sondern eine klare Herausforderung, weil in unserem Land zu Vielen zu vieles gleichgültig ist. Gott weint, friert, wird gedemütigt. Menschen frieren, weinen und werden an den Rand gedrängt.
Jahr um Jahr, wenn ich diese Geschichte höre, wünsche ich mir eine Zeit, in der uns nichts mehr gleichgültig ist; nicht die Not des Nachbarn, nicht der Hunger der Fremden, nicht der Krieg auf anderen Kontinenten.
Manchmal glaube ich diesem Wunsch nicht. Aber diese Geschichte erzählt, wie Menschen damals, gegen allen Anschein, an eine solche Verwandlung glaubten. Die Geschichte ermutigt zu glauben, was andere vor mir glaubten.
Die Weihnachtsgeschichte ist eine persönliche Rettungsgeschichte, vor allem aber ist sie eine Erzählung zur Rettung der ganzen Welt. „Fürchtet euch nicht!“, sagen die Engel. „Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird. Euch ist heute der Heiland geboren. Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden.“