hallo Salzgitter trifft OB Frank Klingebiel zum Neujahrsgespräch
Salzgitter. Ein ereignisreiches Jahr liegt hinter der Stadt: Demonstrationen gegen Schacht Konrad und Stahl-Billigimporte, Debatten um Watenstedt und den Verkehr in Salder, Flüchtlingsintegration, Baby-Boom und Kommunalwahl. Und was kommt 2017 auf Salzgitter zu? hallo-Redakteur Roland Weiterer traf Oberbürgermeister Frank Klingebiel zum traditionellen Neujahrsgespräch.
hallo: Wie war 2016 aus Ihrer Sicht?
Klingebiel: Das Jahr war durchaus erfolgreich, aber auch extrem anstrengend. Wir hatten sehr viele wichtige Themen, die sich nicht nebenbei erledigen ließen. Egal ob es die durch die EU verursachte Stahlkrise war, die Debatten im Rat oder die Flüchtlingshilfe. Wir haben mit unseren wenigen Ressourcen einen echt guten Job gemacht. Die Stadtverwaltung und die Stadtgesellschaft haben viele Aufgaben gut gelöst.
hallo: 2016 wird oft als Jahr der Angst tituliert. Haben Sie das Gefühl, dass sich das Klima durch die Terroranschläge und den Populismus verändert hat?
Klingebiel: Für Salzgitter bin ich erstmal sehr, sehr stolz, dass wir keine AfD oder extremistische Parteien im Rat haben. Dafür gab es hier keinen Nährboden. Ich hoffe, das bleibt auch so. Wenn man das globaler betrachtet, muss man sich bei manchen Wahlergebnissen durchaus Sorgen machen. Im Herbst ist Bundestagswahl und im Januar 2018 Landtagswahl. Die etablierten Parteien werden Antworten finden müssen auf die Fragen, die die Menschen umtreiben. Das sind aber keine Antworten, die in Parteibüchern stehen. Ich glaube, da muss man authentischer auf die Bevölkerung zugehen und auch einräumen, dass die Lage nicht einfach ist, aber sie ist beherrschbar.
hallo: Ein Bedürfnis der Menschen ist Sicherheit. Wie empfinden Sie es, wenn Polizisten mit Maschinenpistolen die Weihnachtsmärkte beschützen?
Klingebiel: Das ist auf den ersten Blick erstmal ungewohnt, wir werden aber damit leben müssen. Eine weltoffene Gesellschaft ist eben anfällig für Terroranschläge, absolute Sicherheit gibt es nicht. Auch Deutschland ist das Ziel von Angriffen, das wissen wir spätestens seit Berlin. Der Staat wird sich umstellen müssen. Angst verspüre ich deshalb aber nicht – in Salzgitter schon gar nicht. Man ist vielleicht etwas aufmerksamer und wachsamer. In Frankreich ist es mittlerweile völlig normal. Zum Beispiel am Montmartre: Als ich mit 18 Jahren dort war, gab es eine entspannte Atmosphäre und bis vier Uhr morgens highlife im Malerviertel, jetzt erleben wir dort eine hohe Polizeipräsenz und abends patrouillieren zusätzlich sogar Soldaten. Darauf werden wir uns langfristig auch einstellen müssen. Das Stadtbild wird sich verändern. Deutschland ist keine Oase und frei von Terrorgefahr. “
hallo: Inwieweit haben Sie als Stadtverwaltung mit sicherheitspolitischen Maßnahmen zu tun?
Klingebiel: Die Aufgabe der inneren Sicherheit liegt erstmal bei Bund und Land. Wir arbeiten als Stadtverwaltung mit allen Behören gut zusammen. Wir sind in diesem Themenkreis aber nur ein kleines Rädchen.
hallo: Wie hat sich die Flüchtlingslage in Salzgitter entwickelt?
Klingebiel: Zunächst können wir stolz sein, was die Verwaltung und die Ehrenamtlichen in der Hochphase der Krise geleistet haben. Da hat der Staat nicht mehr funktioniert, aber wir in Salzgitter bekamen das hervorragend hin. Wir zählen zu den wenigen Städten, die so gut wie keine öffentlichen Einrichtugnen in Anspruch genommen haben. Willkommenskultur wurde bei uns gelebt. Allerdings sind viele Menschen jetzt neu hier und werden im Wesentlichen auch in den nächsten Jahren hier bleiben. Die Krisen weltweit halten länger an. Wir haben den Berg überwunden, jetzt kommen die Mühen im Tal.
hallo: Was bedeutet das für die Stadt und ihre Einwohner?
Klingebiel: Das ist eine echte Herausforderung. Egal ob das Krippe, Kita, Schule, Arbeit oder Freizeit ist. Wir müssen die Hardware schaffen, die Gebäude plus das Innenleben, und wir müssen die Menschen aufnehmen. Sie sollen bei uns ankommen und sich als Teil dieser Stadtgesellschaft fühlen. Wir sind aus der Historie gut aufgestellt, wir standen den Menschen immer offen gegenüber. Die Gewerkschaften sind dabei ein großer Motor. Sorgen mache ich mir nur, weil wir deutschlandweit prozentual die meisten Zuzüge nach Anerkennung haben. 4276 registrierte Flüchtlinge sind es derzeit, 2854 davon anerkannt. Sie haben alle damit verbundenen Rechtsansprüche. Das hat Folgen: Wir brauchen zum Beispiel zehn Krippen- und Kitagruppen zusätzlich in Salzgitter. Das sind allein zehn Millionen Euro für den Invest, dazu kommen etwa vier Millionen Euro jährlich an Betriebskosten. Das Geld, das Bund und Land dafür zur Verfügung stellen, reicht hinten und vorne nicht. Da fühle ich mich schon allein gelassen. Die Finanzen werden nach Einwohnern verteilt, nicht nach der Zahl der Flüchtlinge. Die Summe und der Schlüssel müssten also verändert werden, um die Integration hinzubekommen. Denn ohne ausreichende Unterstützung können wir die Menschen nicht so aufnehmen, wie wir sie auf nehmen müssten. Jugendliche und Erwachsene sitzen sonst zu Hause und wissen nicht, was sie tun sollen. Ich muss sie in die Einrichtungen bekommen oder in die Vereine. Die menschliche Betreuung in Salzgitter ist sehr gut, bei der finanziellen Ausstattung sträuben sich mir die Nackenhaare. Das wird auf jeden Fall eine Aufgabe für 2017 und die nächsten Jahre.
hallo: Hat eine andere Stadt eine ähnlich hohe Quote bei den anerkannten und arbeitssuchend gemeldeten Flüchtlingen?
Klingebiel: Wir sind in Niedersachsen an der Spitze. Danach kommen Delmenhorst und Oldenburg. Das hängt damit zusammen, dass Menschen nach Anerkennung ihres Flüchtlingsstatusses zu uns kommen. Sie können ihren Lebensraum frei wählen, ziehen in Ballungszentren und vor allem dort hin, wo es Wohnungen gibt.
hallo: Ein anderes Thema für die Stadtgesellschaft ist Schacht Konrad. Wie sehen Sie den Beschluss des Bundestages, die Energiekonzerne aus der Verwantwortung für den Atommüll zu entlassen?
Klingebiel: An unserer parteiübergreifenden Position, das Endlager neu zu bewerten und die Forderung einer Rückholbarkeit, hat sich nichts geändert. Wir können stolz sein auf die Aktionen. Doch die fehlende Reaktion auf unsere Einwendungen hat mich maßlos enttäuscht und auch wütend gemacht. Ich habe noch nicht einmal einen Brief bekommen auf die 70.000 Unterschriften. Es gab verschiedene Workshops, Experten waren da, aber die hatten ihre Meinung offenbar schon gefasst. Da frage ich mich, wie geht man mit der Bevölkerung in dieser Region um. Man muss ja nicht einer Meinung sein, aber wenigstens die Diskussion darüber sollten wir führen. Auch wenn das Gesetz beschlossen ist, wird sich an unserem Widerstand nichts ändern.
hallo: Ein anderes Sorgenkind ist derzeit VW. Wie wird sich die Krise des Konzerns auf die Stadt auswirken?
Klingebiel: Die Kommunikation klappt gut. Ich bin überzeugt, VW wird die Krise global meistern und sogar gestärkt aus ihr hervorgehen. Für eine neue Antriebsform stellt sich nur noch die Frage der Zeit. Insofern war die Krise hilfreich, um den nötigen Druck auf das Thema zu bringen. In Salzgitter sind Werkleitung und Betriebsrat mit ihrem Konzept beim VW-Vorstand gut gelandet, sodass hier die Pilotanlage für die Batteriezellenfertigung herkommt. VW ist sehr aktiv dabei, das Werk neu aufzustellen. Die Menschen werden am Ende andere Arbeiten erledigen, das wird sich aber sozialverträglich regeln. Ich mache mir für Salzgitter keine großen Sorgen. Der Übergang wird aber eine Herausforderung sein.
hallo: Sie haben sich 2016 auch stark gemacht für den Erhalt der Stahlproduktion in der EU. Wie sind die Aussichten?
Klingebiel: Ich glaube, dass die Stahlindustrie in Deutschland so viel Druck auf Brüssel entwickelt hat, dass sich bei den Dumpingpreisen und der Vergabe von CO2-Zertifikaten etwas bewegt. Die Vernunft wird sich 2017 oder 2018 durchsetzen. Ärgerlich ist nur, dass es so lange dauert. Die Stahlbranche ist bei uns schon öfter totgesagt worden, aber Deutschland wird immer ein Industrieland bleiben. Wir müssen auch da das Know-how und die hellsten Köpfe haben. Eine EU, die an diesem Ast sägt, muss sich nicht wundern, wenn Stimmen in Deutschland laut werden und fragen, ob das noch unser Brüssel ist.
hallo: Von Brüssel zurück nach Salzgitter. Wie geht es weiter in Watenstedt und den Plänen, aus dem Ortsteil einen Industriepark zu machen?
Klingebiel: Der Rat der Stadt wird entscheiden, ob und in welchem Umfang die Stadt die Mittel für eine Umsiedlung bereitstellt. Dieser Beschluss muss jetzt getroffen werden. Schon 2007 hatte ich gesagt, wir alleine können das nicht, sondern brauchen Bund und Land und Europa dazu. Die waren aber zehn Jahre nicht in der Lage, ein Förderprogramm dafür zu stricken. Das ist aber alles Schnee von gestern. Jetzt ist die Erwartung bei den Menschen groß, dass der Rat das Geld alleine bereitstellt. Das fehlt dann aber für andere Projekte. Die Fraktionen haben erklärt, eine Lösung für Watenstedt zu finden. Wichtig ist, dass wir jetzt eine Entscheidung treffen und nicht jedes Jahr erneut debattieren.
hallo: Ein Förderprogramm gibt es in Steterburg für die Soziale Stadt. Doch auch da wird Unmut laut bei den Einwohnern. Woran liegt das?
Klingebiel: In der Tat sind es fehlende Informationen, die zu dem Unmut geführt haben. Wenn die da sind, wird der Ärger abflachen. Wenn wir Steterburg beleben wollen, dann geht das nur über so ein Förderprogramm. Stadt, Bund und Land geben ein Drittel, die Eigentümer müssen später eine Bodenwertsteigerung zahlen. Eine Alternative gibt es nicht, sonst bleibt alles wie es ist. Das kann ich niemandem empfehlen. Der private Eigentümer hat auch einen erheblichen Vorteil davon. Die Investitionsmittel, die dort einfließen, lassen sich nicht anders erreichen.
hallo: Eine weitere größere Baustelle befindet sich in Salder. Die Bewohner sind aktiv und hoffen auf eine Umgehungsstraße. Was passiert dort?
Klingebiel: Wir sind auf verschiedene Weise tätig geworden, doch im Kern geht es um eine Umgehungsstraße. Für das Land ist sie nicht förderfähig, also müsste die Stadt den Bau alleine finanzieren. Da fehlt uns aber in den nächsten Jahren das Geld im Haushalt. Wenn der Rat das anders sieht, ist das eine kommunalpolitische Entscheidung. Wir haben schon Projekte, die den Etat belasten wie das Hallenbad in Lebenstedt. Der Um- und Ausbau ist attraktivitätssteigernd, kostet uns aber sehr viel Geld. Wir sind nicht auf Rosen gebettet, die Stadt muss Prioritäten setzen – und das wird schwer.
hallo: Besser sieht es bei den Einwohnern aus, da zeigen die Zahlen beständig nach oben. Wo steht Salzgitter derzeit?
Klingebiel: Wir haben am 30. September 2015 wieder die 100.000er-Marke amtlich überschritten. Derzeit operieren wir mit den Zahlen vom März, weil das Landesamt für Statistik wegen einer Softwareumstellung keine aktuellen Daten liefern kann. Wir haben die Demografie umgedreht und wachsen – unabhängig von dem Flüchtlingszuwachs – seit 2014 aufgrund der eigenen Leistungen, die kommunalpolitisch gesetzt wurden. Das hat die Stadtgesellschaft toll hingekriegt. Uns fehlt es nur an Bauland. Wir haben 1.000 Anfragen für 400 Plätze. Der neue Rat wird sich damit beschäftigen müssen. Wir wollen doch die Leute, die bei uns arbeiten, auch halten. Wer bauen will, wartet vielleicht ein Jahr. Wenn er dann keinen Platz kriegt, geht er woanders hin und fährt. Das wird eine der zentralen Fragen 2017 sein.