Sozialverband Salzgitter begleitet Rollstuhlfahrerin auf einer Bahnfahrt
Salzgitter. Hilde Kollek ist eine agile Frau von 84 Jahren. Sie will noch am Leben teilhaben, bei vielem mitmachen. Auf Bitte des Sozialverbandes Salzgitter (SoVD) testete die Bewohnerin des Seniorenheimes an der Johann-Sebastian-Bach-Straße, am Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen, welche Hürden Rollstuhlfahrer bei einer Bahnfahrt von Lebenstedt nach Hannover überwinden müssen.
Die Antwort gleich vorweg: Ohne fremde Hilfe geht es nicht. Schon am Lebenstedter Bahnhof benötigt jeder Rollstuhlfahrer eine Rampe. Diese holt der freundliche Zugführer der DB-Regionalbahn 44 und schiebt die aus Schlesien stammende Rentnerin eigenhändig in den Wagen und auf einen für Räder oder Rollstühle vorgesehenen Platz. Sonst müssten mehrere starke Männer gebehinderte Reisende mit Muskelkraft die 15 Zentimeter zwischen Bahnsteigkante und Zugfußboden überwinden helfen. Eine Spannweite zwischen Daumen und Zeigefinger würde andernfalls zur unüberwindbaren Klippe für Rollstuhlfahrer.
9.15 Uhr: Der Regionalzug der Deutschen Bahn fährt pünktlich ab. Über die Zwischenstopps in Watenstedt, Immendorf und Thiede wird die Rollstuhlfahrerin über gut lesbare Schrifttafeln sowie Lautsprecherdurchsagen informiert. Vorbildlich.
9.22 Uhr: Was wäre, wenn die Reisende im Rollstuhl ein unaufhaltsames menschliches Bedürfnis überkäme? Grazyna Barelkowski vom Begleitenden Dienst ihrer Senioreneinrichtung will Hilde Kollek in das nahe Behinderten-WC rollen, doch das sonst recht wendige Fortbewegungsmittel ist zu breit. Sie bleiben stecken. SoVD-Kreisvorsitzender Dieter Kömpel misst nach, die WC-Tür ist lediglich 69 Zentimeter breit. Wie gut, dass dies kein Not-, sondern nur ein Testfall war.
9.40 Uhr: Die RB 44 kommt pünktlich auf Gleis 3 des Braunschweiger Hauptbahnhofs an. Ohne fremde Hilfe können Rollstuhlfahrer den Rufknopf für den Fahrstuhl betätigen. Der Anschlusszug nach Hannover fährt auf Gleis 5 ab. Also runter mit dem ersten Fahrstuhl und mit einigen koffertragenden Reisenden gemeinsam im nächsten Aufzug wieder hoch zu den Gleisen 5 und 6.
10.01 Uhr: „Dafür sind wir leider nicht zuständig“, lautet die Auskunft eines Mitarbeiters der Deutschen Bahn auf die Frage, ob die Rollstuhl-Reisende wieder mit einer Rampe die diesmal etwa 20 Zentimeter zwischen Bahnsteigkante und Zugboden überwinden kann. Der Grund für die Absage der DB: Der Anschlusszug wird von der privaten Westfalenbahn betrieben. Dank zupackender Hände wird der Rollstuhl für Sekunden zur Sänfte und in den Zug gehoben. Der sogenannte Wagenstandanzeiger für Gleis 5 ist dezentral und in weiter Entfernung zu dem für die Züge des Gleises 6 versteckt.
10.24 Uhr: Der Zug hat gerade den Bahnhof verlassen, da entschuldigt sich die Zugbegleiterin höflich. Vor einiger Zeit hätte sie mit Kollegen eine Rollstuhl-Reisende spät abends eine lange Bahnhoftreppe hinabgetragen, weil es dort keinen Fahrstuhl gab und die örtlichen Bahnmitarbeiter im Feierabend waren, versichert sie glaubhaft.
10.32 Uhr: Auch in der Regionalbahn 60 nach Rheine informiert die Westfalenbahn ihre Reisenden vorbildlich über die Ankunftzeiten an den Haltestellen. Mindestens 1,15 Meter breit ist übrigens die Tür zur Behinderten-Toilette. Leider geht die Toilettentür nicht auf Knopfdruck auf, denn nur mit viel Muskelkraft bekommt man die Tür auf.
10.51 Uhr: Auch am Hannoveraner Bahnhof wird Heide Kollek mit kompetenter Hilfe des Bahnpersonals auf den Bahnstieg geschoben. Aus eigener Kraft ging es dann mit dem Fahrstuhl hinter die Bahnhofgänge, in denen die Reisenden wie Ameisen umher schwirren.
11.55 Uhr: Treffenderweise um „fünf Minuten vor Zwölf“ eröffnete der SoVD seine landesweite Demonstration auf dem bekannten Hannoveraner Kröpke. Mehr als 200 Demonstranten warben dort für Inklusion, die Menschen mit körperlichen und/oder geistigen Beeinträchtigungen die Teilhabe am Alltäglichen sichern soll. Dies gilt auch unter anderem für den Arbeitsplatz, Schule, Kindergarten und den Straßenverkehr.
Das Personenbeförderungsgesetz (PBefG) sieht eine Fristsetzung zur vollständigen Barrierefreiheit gem. §8 Absatz 3 bis zum 1. Januar 2022 vor. Doch auch in fünf Jahren werden voraussichtlich nur etwa 25 Prozent der Züge, Busse und Straßenbahnen wirklich barrierefrei sein“, klagte der Bundes- und -Landesvorsitzende des SoVD, Adolf Bauer am Mikrophon. Zwischen den verbrieften Zusagen der Politik und deren Umsetzung klafft also eine breitere Lücke als zwischen den meisten Bahnsteigen sowie den Einstiegshöhen der Busse und Bahnen.
13.38 Uhr: „Viele der niedersächsischen SoVD-Kreisverbänden, die sich mit Bussen und Bahnen nach Hannover aufgemacht haben, berichten von Hindernissen, die nur mit fremder Hilfe überwunden wurden“, zog Salzgitters SoVD-Kreisvorsitzender Dieter Kömpel sein Fazit.
Trotz vieler negativer Erfahrungen, die auf der Kundgebung offen angesprochen wurden, müsse der Deutschen Bahn aber auch „Danke“ gesagt werden für die zahlreichen Verbesserungen in Sachen Barrierefreiheit. Die Zugbegleiter seien stets höflich und Wünschen gegenüber aufgeschlossen gewesen, lobte Kömpel. Weil die berechtigten Forderungen im öffentlichen Personennahverkehr trotz der erlassenen Gesetze bis zum 1. Januar 2022 wohl nicht annährend erreicht werden, werde der SoVD die Veränderungen in Sachen Barrierefreiheit beim ÖPNV sehr genau begleiten und Lob sowie Tadel gewissenhaft aussprechen …
Einen Filmbericht über die Zugfahrt sowie die Demonstration in Hannover sendet das über Kabel ausgestrahlte TV 38. Der genaue Sendetermin steht noch nicht fest. Den Fernsehbericht erstellten die beiden Praktikanten Alhussein Nour und Nidal Bubakry.